In der psychiatrischen Versorgung werden zunehmend neue Wege beschritten, um die Teilhabe und Autonomie der Patientinnen und Patienten zu stärken. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die ausdrückliche Einbeziehung der Patientenperspektive in die Arbeitsprozesse und das Umfeld der stationären Versorgung immer mehr an Bedeutung. Mit Blick auf diese Ziele wurde in den vergangenen Jahren in vielen Einrichtungen das Konzept der Recovery-orientierte Versorgung aufgegriffen. Auch im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden (PZN) nimmt das Recovery-Modell bei der kontinuierlichen Weiterentwicklung des Behandlungsprozesses von psychisch oder seelisch erkrankten Menschen mittlerweile einen zentralen Stellenwert ein. In diesem Zusammenhang wurde nach ausführlicher Literaturrecherche, vielen Vorüberlegungen, konstruktiver Zusammenarbeit und großem Engagement ein Modellprojekt entwickelt, das den Patient*innen einer PZN-Station ermöglicht, genau an den individuellen Themen zu arbeiten, die für sie persönlich hohe Priorität haben. Rahmenbedingungen auf der Projektstation Die Projektstation 36 K wird im Hauptgebäude des Gerontopsychiatrische Zentrums (GZ) vorgehalten. Das Besondere an dieser Station mit Komfortbereich ist, dass erwachsene Patient*innen jeden Alters aus den Fachgebieten Allgemeinpsychiatrie, Gerontopsychiatrie, Suchttherapie und Psychosomatik behandelt werden können. Die Angebote richtet sich an privat Versicherte sowie Selbstzahler aller klinisch-psychiatrischer Diagnosegruppen. Nicht aufgenommen werden Patient*innen, die krankheitsbedingt beispielsweise nicht zur Absprache fähig sind (z. B. aufgrund einer Demenzerkrankungen) oder die wegen einer gerichtlich angeordneten Unterbringungsmaßnahmen den geschützten Rahmen einer geschlossenen Station benötigen (z. B. Überwachungen im Rahmen akuter Eigen- und Fremdgefährdung).
Die Behandlung auf der Station 36 K erfolgt durch ein berufsgruppenübergreifendes Team unter der Leitung des Chefarztes des jeweiligen Fachgebietes. Ein wichtiges Behandlungsziel ist die Erhaltung und Förderung der Selbstständigkeit der psychisch oder seelisch erkrankten Menschen unter Berücksichtigung der Wahrung ihrer Würde, des freien Willens, der Rechte und der Eigenverantwortlichkeit bei allen diagnostischen und therapeutischen Aktivitäten.1 Vor diesem Hintergrund wird auf dieser Station u. a. die Bezugspflege als pflegerisch Organisationsform vorgehalten. Dies bedeutet, dass jeder Patientin und jedem Patienten eine namentlich benannte Pflegefachperson als Bezugsperson von der Aufnahme bis zur Entlassung zur Seite steht.
Im Rahmen dieses Pflegekonzepts werden wöchentliche Bezugspflegegespräche dokumentiert. Diese Gespräche beschränken sich nicht nur auf das Sammeln biografischer Daten, sondern dienen auch dazu, dass Patient*innen und Pflegende gemeinsame Ziele festlegen. Diese Informationen und Ziele bezieht die Pflegefachkraft in den gesamten Pflegeprozess mit ein, dokumentiert diese in der elektronischen Patientenakte und stellt die Ergebnisse in Teambesprechungen vor. Als Hemmnis wurde hierbei das Fehlen eines geeigneten Instrumentes zur Erfassung, Bearbeitung und Auswertung der gemeinsamen Ziele erachtet. Dies hatte zur Folge, dass den Patient*innen oft die Motivation fehlte, eigenständig Ziele zu priorisieren und diese zu verfolgen, um schließlich wieder ein sinnvolles, befriedigendes und schätzenswertes Leben erlangen zu können. Einführung eines neuen Instrumentes Mit der Einführung des Assessment-Instruments Recovery Star™ und den dazugehörigen Handlungsplänen sollte diese Lücke im Praxisprojekt der Station 36 K geschlossen werden. Die Erwartung war, dass sich Veränderungen und Stagnationen nachvollziehbar abbilden lassen und damit eine Auswertung der Veränderungsbereitschaft und persönlichen Befindlichkeiten psychisch oder seelisch erkrankter Menschen möglich machen. Diese Schritte sollte das Einrichtungsprojekt die qualitative Weiterentwicklung der Behandlungsangebote und der partizipativen Therapieangebote unterstützen, um Mitbestimmung und Selbstverantwortung der Patient*innen zu fördern.2
Um den Implementierungsprozess und die Sensibilisierung der Fachpersonen in der Recovery-orientierten Versorgung zu unterstützen, entschied man sich, den Recovery Star™ und die Handlungspläne in zwei aufeinanderfolgenden Praxisphasen an Patient*innen zu erproben. Hierbei wurden die Behandlungspartner mit in den Implementierungsprozess einbezogen. Ermutigende Ergebnisse Die in den beiden Praxisphasen gesammelten Ergebnisse zeigen, dass eine quantitative Untersuchung der psychometrischen Eigenschaften des Recovery Star™ möglich ist. Damit stützen sie auch die aktuellen Forschungsergebnisse zum Recovery Star™. Die psychometrischen Eigenschaften der zehn Items (Sternzacken), das Schlüssel- und Unterstützungswerkzeug der Methode, bewährten sich. Durch die Kennzeichnung dieser Sternzacken ließen sich Veränderungen und Stagnation im therapeutischen Prozess sichtbar machen und messen. Bei den meisten Patient*innen war deutlich erkennbar, dass sie im Verlauf der Bearbeitung des Recovery Star™ Fortschritte machen konnten. Aufgrund des fehlende Auswertungstool der Fa. Triangle war jedoch eine wissenschaftlich fundierte Auswertung nicht möglich. Beispielhafte Kernaussagen von Patient*innen aus beiden Praxisphasen mit dem Recovery-Star™ und den Handlungsplänen unterstreichen die positiven Ergebnisse:
• „(…) ich habe sehr profitiert (…) werde selbstständig daran weiterarbeiten.“
• „(…) sehr froh gewesen (…) am Projekt Recovery teilgenommen zu haben.“
• „ich habe sehr vom Recovery Star profitiert.“
Fazit: Impulse für die Pflege und weitere Professionen in der Psychiatrie Mithilfe des Assessment-Instrument Recovery Star™ und den dazugehörigen Handlungsplänen konnten die Patienten der Station 36 K ihre eigenen Ziele festlegen und priorisieren. Somit konnte die Patientenautonomie gestärkt und gefördert werden.
Im Praxisprojekt zeigte sich, dass im Recovery-Prozess jeder Genesungsweg anders und an besondere fachliche Anforderungen geknüpft ist. Generell sollen Recovery-orientierte Interventionen den Betroffen helfen, die Selbstständigkeit zurückzugewinnen, um ein erfülltes und zufriedeneres Leben führen zu können. Aus diesem Grund sind die Berufsgruppen in psychiatrischen Einrichtungen gefordert, eine Recovery-orientierte Haltung und geeignete Maßnahmen zu entwickeln.
Aus Sicht des Verfassers wird die professionelle Arbeit in psychiatrischen Einrichtungen durch die Recovery-Orientierung anspruchsvoller: Die Berufsgruppen müssen das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen möglichst lange wahren und ihre eigenen Stigma-Neigung kritisch reflektieren. Das Recovery-Konzept gibt Impulse, dass sich das klassische Rollenverständnis von professionell Tätigen ändert. Betroffene und professionell Tätige müssen nicht nur Begrifflichkeiten wie Empowerment, Hoffnung, psychiatrische Pflege, Beziehungsarbeit, Peer-Unterstützung, Gesundheit und Gesundung verinnerlichen, sondern näher zusammenrücken. Die Berufsgruppen in psychiatrischen Einrichtungen sind gefordert zu lernen, Betroffenen respektvoll und auf Augenhöhe zu begegnen.
Ermutigt durch die bisher positiven Erfahrungen, werden der Recovery Star™ und die Handlungspläne nun auch auf einer weiteren gerontopsychiatrischen Station in der Praxis erprobt. Projektleiter André Hieke [1] Vgl. PZN Wiesloch, Said, S. u. a.: Stationskonzept 36AK, Wiesloch 2017, S.3ff.
[2] Vgl. PZN Wiesloch: Geschäftsbericht Report 2017/2018, Wiesloch 2018, S.11.